Intro zum zweiten Gastbeitrag aus der Reihe Elternsein & Inklusion
Elternsein & Inklusion. Bárbara ist Autorin, Mutter von drei Kindern, zwei ohne und eins mit Behinderung und setzt sich für Inklusion ein. Ihr könnt mehr von ihr auf Instagram und auf dem Blog Kaiserinnenreich (www.kaiserinnenreich.de) lesen.
Ich freue mich wirklich, dass Bárbara zwei offene, kritische und wertvolle Beiträge für die Reihe “Elternsein und Inklusion” verfasst hat, die nicht nur das Muttersein eines Kindes mit Behinderung beleuchten, sondern auch was es im Generellen bedeutet, in unserer Gesellschaft mit einer Behinderung zu leben. Ich bin jeden Tag dankbar für Menschen wie Bárbara, die sich unaufhörlich dafür einsetzen, dass Behinderung in unserer Gesellschaft nicht mehr als “abnorm” gilt und wir alle unsere Haltung dazu ändern. Durch das Teilen ihrer Geschichten, haben wir die Chance unseren Blickwinkel, unsere Haltung uns unser Verhalten ständig zu reflektieren und zu lernen. Zu lernen, dass kein Mensch perfekt ist und kein Mensch “mehr wert” als ein Anderer.
Wem gehört mein Kind?
(Triggerwarnung: Dieser Text enthält Sequenzen, die Auslöser schwieriger Gefühle und Erinnerungen sein können. Hier werden Beispiele für solche Trigger – wie Diskriminierungserfahrungen und sexueller Missbrauch erwähnt. Bei manchen Menschen können diese Themen negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn dies bei dir der Fall sein sollte.)
Unsere Elternschaft üben mein Mann und ich nicht alleine aus. In den ersten drei Lebensjahren unserer jüngsten Tochter hatten wir Kontakt mit ca. fünfzehn Ärzt*innen, sechs Therapeut*innen und Pfleger*innen (unabhängig von denjenigen, denen wir im Krankenhaus begegnet sind) und neun Sanitäter*innen. Und ich habe nur so grob gezählt. Denn unser Kind hat eine Behinderung und braucht medizinische Betreuung.
Jeder dieser „Fachmenschen“ hat eine Meinung über unsere Tochter und eine Art, wie er*sie mit ihr umgeht. Es gibt die, die sie herzlich begrüßen; die, die ihren Körper anfassen ohne mit ihr ein Wort getauscht zu haben; andere die sie auf Augenhöhe wahrnehmen; wieder andere die denken, sie muss repariert werden.
Ich beobachte all das und mache mir viele Gedanken darüber… Ist diesen Menschen bewusst, welche Spuren sie in dem Leben meines Kindes hinterlassen können? Und wegen dieser Gedanken erwarte ich, dass sie sich bewusst damit auseinandersetzen und sich fragen, ob und inwiefern sie zu ableistischen Gedanken und Haltungen stehen. Immerhin vertraue ich ihnen, dass sie uns durch ihr Wissen unterstützen können, aber am Ende sind sie auch nur Menschen wie ich, wie du! In einem Gespräch mit einer Freundin erzählte diese mir, dass sie in ihrem Masterstudiengang in Heilpädagogik keinen Kontakt mit dem Begriff Ableismus hatte. Auch heute, nach fast zehn Jahren Praxiserfahrung, war ihr der Begriff neu. Wovon ich sehr überrascht war und diese Situation auf african studies Forscher*innen übertrage, die noch nie etwas von “Rassismus” gehört haben.
Ableismus. Was ist das?
Weltweit leben heute ca. eine Billiarde Menschen mit Behinderung. Bevor meine dritte Tochter geboren wurde, wusste ich nichts davon und ich wusste auch nicht, dass Ableismus der Begriff für die Ungleichbehandlung und Diskriminierung eines Menschen aufgrund seiner Behinderung ist. Gestern war ich sozusagen also selbst sehr ableistisch und war mir dessen nicht einmal bewusst. Heute versuche ich mir mit viel Wachsamkeit immer bewusst zu machen, dass dieses Phänomen existiert und was es mit mir und mit Anderen macht, sei es in Form von Gedanken, Gefühlen, Aussagen oder Taten – oder Tatlosigkeit!
Wir wurden oft dazu erzogen – mit wir meine ich die ganz große Mehrheit der Menschen und auch die, die heute als Ärzt*innen und Therapeut*innen arbeiten -, in eine Norm reinzupassen, sei es in unser angeborenes Geschlecht, in die Erwartung unserer Eltern sowie Lehrer*innen, später in die Rolle als Mutter/Vater, in die Arbeitswelt… Wir tun so, als ob die Vielfalt nicht existieren würde. Und selbst wiederholen wir unreflektierte Narrativen von Ablehnung, Aussetzung und Diskriminierung an Menschen, die nicht in diese Normen passen. In der griechischen Zeit entsprachen manche Menschen nicht dem “Bild von Schönheit”. Heute entsprechen sie nicht der “Erwartung der Leistungsgesellschaft”.
Warum ist es wichtig darüber zu sprechen?
Weil dieses Thema auf ein strukturelles Machtverhältnis hinweist. In unserer Gesellschaft werden sehr viele, wenn nicht alle, Aspekte des Lebens von Menschen mit Behinderung von Menschen ohne Behinderung entschieden. Diese treffen Entscheidungen auf einer politischen, medizinischen, therapeutischen und pädagogischen Ebene, genauso wie in täglichen und pflegenden Situationen über das Leben von denen, um die es geht. Die Macht, die eine Gruppe auf die andere hat, ist sichtbar und strukturell.
Die Aufgabe von Therapeut*innen, Begleiter*innen und Ärzt*innen liegt darin, durch ihr Wissen, ihre Erfahrung und Anwesenheit einen*e Patient*in zu unterstützen, mehr Autonomie oder/und Lebensqualität zu gewinnen. Und genau hier liegt die Gefahr: Dass eine verdrehte Machtdynamik von Therapeut*in mit Patient*in ausgeübt wird. Ein gewisses Wissen zu besitzen oder einen Menschen in der Bewältigung einer Alltagssituation zu unterstützen, gibt niemandem die Legitimität respektlos mit ihm umzugehen und ihn nicht in seiner Subjektivität wahrzunehmen!
Das klingt logisch, oder? Aber eine respektlose Haltung entsteht nicht nur durch extreme körperliche Gewalt! Sie kann sich sehr subtil zeigen, wie z.B. während der ärztlichen Sprechstunde nicht mit dem*der Patient*in zu sprechen, sondern nur mit der Person, die ihn*sie begleitet. Oder seinen Körper anzufassen ohne um Erlaubnis zu fragen – ja, selbst wenn die Person nicht sprechen kann. Eine Stimme hat jeder Mensch, selbst wenn sie nicht hörbar ist!
Patient*innen machen sich verwundbar und öffnen sich. Sie zeigen ihren Körper, ihre Wunden (seelische sowie physische) und ihre Bedürfnisse nach Unterstützung. Hierbei ist die Gefahr von Manipulation und Grenzüberschreitung stets da. Aber die Möglichkeit, dass ein Mensch wie mein Kind, das nicht laufen kann, einfach Stopp sagt und im schlimmsten Fall wegrennen muss, gibt es nicht immer! Sexueller Missbrauch bei behinderten Mädchen ist eine traurige aber leider faktische Realität.
Hier geht es weiter mit Teil zwei des Gastbeitrages:
https://elisadiazperez.com/2021/03/wem-gehoert-mein-kind-ein-gastbeitrag-von-barbara-teil-zwei/