Intro zum zweiten Gastbeitrag aus der Reihe Elternsein & Inklusion
Hier geht es weiter mit dem zweiten Teil von Nicoles Gastbeitrag! Falls du den ersten Teil noch nicht gelesen haben solltest, findest du ihn hier:
Wie unser Alltag aussah
Zuhause hatte ich Justin einen schönen Ort und Möglichkeiten geschaffen, seinen Anforderungen gerecht zu werden. Ich lernte meinen Sohn zu verstehen und seine extreme Geräuschempfindlichkeit einzuschätzen. Aber auch, das ihn Kontakte und neue Umgebungen überforderten. Das er auf Stresssituationen mit Erbrechen und Aggressivität sich selbst gegenüber reagierte und wie ich dieses Schema durchbrechen konnte. Ich lernte, was ihn glücklich machte. Das sein Summen eine Art Selbststimulation bedeutet und vieles mehr. Sein Summen begleitet mich bis heute. Auch jetzt wieder, während ich diese Zeilen tippe. Sie drücken seine Zufriedenheit aus, aber auch, wenn das Leben mal wieder sehr aufregend ist. Ich lernte über ihn, dass ein bestimmtes Lachen kein glückliches Lachen darstellte, sondern ein Ausdruck höchster Not. Ein Umstand, den viele von außen kaum nachvollziehen konnten.
Mein Sohn besuchte einen integrativen Kindergarten und dort zeigte sich, dass er keinen Zugang zu anderen Kindern fand. Er umkreiste seine Gruppe wie ein kleiner Satelit, ohne sich in ihre Spiele einbinden zu lassen. Sie schienen ihm aber auch nicht zu fehlen.
Mein Sohn, der in seinen ersten Lebensmonaten weder Hunger noch Durst zum Ausdruck brachte, entwickelte sich in den kommenden Jahren zu einem kleinen Feinschmecker. Mit der Hilfe von Melatonin, fand er mit knapp vier Jahren endlich zu einem tiefen und erholsamen Schlaf. Und für uns begann die Welt ab diesem Zeitpunkt leichter zu werden. Aber auch mit der Entscheidung, dass ich die vielen Therapien zuhause nicht mehr in der Art fortsetzen wollte, wie sie mir angeraten wurden. Auf Grund der Fülle an Therapien und wie oft ich sie durchsetzen sollte – waren wir beide mit der Zeit schlichtweg überfordert. Ich wurde zunehmend mehr Therapeutin als Mutter meines Sohnes und lief Gefahr, uns zu verlieren.
Der Mensch, der Justin ist
Justin verfügt bis heute über eine kurze Aufmerksamkeitsspanne von wenigen Minuten. Diese wollte ich sinnvoll nutzen. Spielerisch aus dem Alltag heraus. Einfühlsam auf ihn eingehend und seine Fähigkeiten stärken. Ganzheitlich. Ihm zeigen, wie schön das Leben ist. Das er sich auf mich verlassen kann, ohne ihn zu zerbrechen. In seinem Leben habe ich ihm sicher viel zumuten müssen, mehr, als manch einer von außen vermutet oder zu sehen wünscht. Aber ich fand einen Weg meinen Sohn zu fördern, ohne ihn zu überfordern. Der Weg hätte schief gehen können. Aber mit jedem Fortschritt, den mein Sohn in den kommenden Jahren für sich eroberte, öffnete sich eine neue Tür, durch die wir gehen konnten. Geduld war gefragt. Unendlich viel Geduld. Wenn wir einen Schritt vorankamen, ging es meist auch wieder einen kleinen zurück, ehe es wieder voranging.
Unsere damalige Ergotherapeutin und Logopädin, waren ein unfassbar großer Schatz für uns. Beide waren auf Autisten spezialisiert und erkannten in meinem Sohn einen frühkindlichen Autisten. Sie vertraten die Ansicht, dass es nicht den einen Autisten gibt, sondern jeder für sich einzigartig ist. Ein Punkt, den das SPZ damals in dieser Form nicht vertrat. Man war der Ansicht, dass ein Autist nur ein Autist ist, wenn dieser in keinster Weise auf sein Umfeld reagiert. Mittlerweile hat sich dieses Bild zum Glück revidiert.
Wenn man meinem Sohn heute begegnet, dann hat er sich in einer unfassbaren Weise entwickelt und entdeckt in ihm kaum den kleinen Menschen, der er in seiner ersten Lebenszeit war. Diese Zeit muss für ihn eine unfassbare Qual gewesen sein. Und das hörte man. Er schrie, als wenn es um sein Leben ging. Ich hielt ihn damals nahezu rund um die Uhr in meinen Armen. Klopfte und massierte seinen Körper zur Beruhigung mit festen rhytmischen Bewegungen. Summte ihm Lieder vor und ließ ihn meinen Herzschlag spüren.
Was es bedeutet ein Team zu sein
Über die Jahre sind wir vielen Ärzten begegnet. Großartigen Menschen, denen ich vertraute und deren Respekt ich mir erwarb. Diejenigen, denen ich nicht vertraute oder die der Meinung waren, meinen Sohn in eine Schublade stecken zu wollen – durften gehen. Aber für die meisten sind wir zwei ganz besondere Menschen, die in einer sehr innigen Beziehung zueinander stehen. Mir ist nicht ganz klar, woran sie das für sich ausmachen. Meist ist es mir unangenehm, weil es eine Wertung anderer Familien impliziert, die mich zurückscheuen lässt, dies zu akzeptieren.
Ich weiß nur zu gut, dass mein Sohn kein zweiter Einstein ist und auch nie in der Lage sein wird, selbstständig zu leben. Aber ich liebe ihn. Für seine Einzigartigkeit. Für seinen Charme. Sein offenes und vertrauensvolles Herz. Wie schön und berührend es ist, ihm eine Freude zu bereiten. Mit ihm ein Theater oder Konzert (gerne auch ein klassisches) zu besuchen, dass ist für uns, die wir ihn begleiten, ein unglaubliches Geschenk. Weil es so schön ist zu erleben, wie sehr er sich freuen kann. Auch wenn er sich vor vielen Dingen oder Situationen ängstigt, ist er unglaublich mutig und ein Held.
Zusammen haben wir unfassbar vieles durchgestanden und erreicht. Gemeinsam haben wir meine Brustkrebserkrankung gemeistert. Auch an dieser Herausforderung ist mein Sohn gewachsen und entwickelte eine enorme soziale Kompetenz, die viele nicht für möglich gehalten hätten. Wir haben zusammen geweint. Zusammen das Leben getanzt und gelacht. Wir haben einen hohen Preis bezahlt, aber auch viel an Wertschätzung und Unterstützung geschenkt bekommen.
Und heute?
Und heute? Bis auf wenige Ausnahmen, bin ich neben der Pflege und Betreuung meines Sohnes, in Teilzeit berufstätig und habe uns eine lebenswerte Gegenwart aufbauen können. Mir ist bewusst, dass unser Leben fragil ist. Manche meiner Träume und persönlichen Entfaltungswünsche musste ich begraben. Dafür haben sich neue Möglichkeiten ergeben, auch wenn ich mir manches Mal mehr Freiräume wünschen würde. Trotz allem und auch wenn es immer wieder mal schwer und kaum auszuhalten ist, weil es so viele bürkratische und gesellschaftliche Hürden auf unserem Lebensweg gibt, führe ich ein ausgefülltes Leben. Meine Talente oder Interessen zu vertiefen, dafür fand ich Wege, die auch Justin eine Stimme im Bereich Inklusion schenkten und der unseren LeserInnen zeigt, wie schön und lebenswert das Leben sein kann.
Mein Sohn ist ein Lebensgeschenk. Das sage ich nicht nur als seine Mama. Sondern das empfinden viele seiner Lebensbegleiter, die dankbar sind, ihn in ihrem Leben zu wissen und die die gemeinsame Zeit mit ihm wertschätzen und genießen.
Für Justin, Lehrmeister des Lebens und Herzenseroberer oder just.IN.klusion
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