Was ist die Idealvorstellung?
Jeder hat eine Idealvorstellung vom Kind. Die Idee davon, wie das Leben mit Kind sein wird. Wie man als Familie funktioniert und die Kindheit gestaltet. Wie die Interaktion aussehen wird und ja, auch davon, wie man als Eltern sein wird oder sein möchte. Die Idealvorstellung ist etwas, das sich unbewusst in uns manifestiert & aus unseren Glaubenssätzen, Erfahrungen, aber auch aus dem, was wir über die Jahre hinweg von außen angesammelt haben, entsteht.
Auswirkungen der Idealvorstellung auf den Umgang mit “Behinderung”
Ich finde, man sollte kein Tabu-Thema daraus machen, dass die wenigsten Menschen sich dabei ein Leben mit behindertem Kind vorstellen. Grundsätzlich stellt sich jeder Mensch ein gesundes Kind vor (aufgepasst angesichts der Begrifflichkeiten: “behindert” ist nicht dasselbe wie “krank” und steht somit nicht im Gegensatz zu “gesund”), welches sprechen, selbstständig essen, Nächte durchschlafen, gerne kuscheln oder/und mit anderen Kindern spielen wird.
Was bedeutet ein Kind mit Behinderung für die Idealvorstellung?
Ein Kind mit Behinderung zu haben bedeutet, dass Eltern wesentlich schneller von ihrer Idealvorstellung loslassen “müssen” als andere. Abschied nehmen von der eigenen Idealvorstellung ist eine Aufgabe, der sich alle Eltern stellen müssen. Niemand kann vorhersehen, wie sich die Persönlichkeit eines Kindes entwickelt oder wie sich das Familienleben in der Realität tatsächlich gestaltet. Der Unterschied ist allerdings, dass Eltern von nicht-behinderten Kindern für diesen Prozess mehrere Jahre Zeit haben und dass die “Abweichungen” von der Idealvorstellung nicht mit so viel Ungewissheit, Angst und Unbekanntem verbunden sind. Zudem stoßen Eltern von behindertem Kind hier auch nicht nur auf Grenzen bzgl. ihrer individuellen Vorstellungen, sondern müssen sich auch mit einem völlig neuen Weltbezug konfrontiert sehen.
Den Alltag und den eigenen Weltbezug umkrempeln
Häufig werden von einem Tag auf den nächsten Herausforderungen wie “Welchen Pflegegrad gibt es, wo und wie läuft die Beantragung von Ersatzpflege, Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege” relevante Bestandteile des Alltages. Eltern müssen in ihrem Leben Platz einräumen für Themen, die vorher meilenweit von ihrer Lebenswirklichkeit entfernt waren. Die wenigsten hatten vor der Geburt ihres behinderten Kindes schon einmal näheren Kontakt zu anderen Menschen bzw. Kindern mit Behinderung. Sie stehen also nicht nur hinsichtlich ihres inneren Gefühllebens vor neuen Fragen, Sorgen & Gedanken, sondern müssen sich auch in einer Welt zurecht finden, in der Behinderung auf einmal eine Rolle spielt.
Sich in seiner neuen Elternrolle suchen und finden
Die wenigsten Eltern stellen sich in ihrer Idealvorstellung vor, dass ihr Kind mit 7 Jahren noch gewickelt werden muss, sich ein Leben lang nicht ohne Hilfsmittel fortbewegen kann, nicht lautsprachlich kommuniziert oder/und bis in die Pubertät gefüttert werden muss. Idealvorstellungen beinhalten selten behinderte Kinder, weil sie defacto immer noch kein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens der meisten Menschen sind. Und wir können uns schwer etwas (unbewusst) vorstellen, was wir nicht kennen.
Warum das Leben mit behindertem Kind anders ist
Das bedeutet nicht, dass das Leben mit behindertem Kind schlechter ist. Es ist eben anders. Und es kann mitunter ein langer Prozess sein, diesen anderen Fahrplan fürs Leben zu akzeptieren & zu verinnerlichen.
Ich kenne zahlreiche Familien, denen das hervorragend gelungen ist bzw. gelingt und die sich mittlerweile nicht einmal mehr von störrischen Jugend-/ Sozialämtern aus der Ruhe bringen lassen. Aber ich kenne eben auch viele Familien, bei denen die Realität anders aussieht. Die jeden Tag aufs Neue mit der Behinderung ihres Kindes zu kämpfen haben, die vor Erschöpfung das Ufer am anderen Ende nicht mehr sehen oder die zwar die Behinderung ihres Kindes ohne weiteres in ihren Alltag integrieren können, aber nicht über traumatische Geburtserlebnisse hinweg kommen.
Natürlich glaube ich, dass jeder Mensch seine Last zu tragen hat. Und man weiß nie wie schwer die Last ist, die fremde Schultern tragen.
Und auch Kinder ohne Behinderung können Schlafschwierigkeiten, herausforderndes Verhalten, usw. zeigen. Dennoch bin ich der Meinung, dass die Herausforderungen für Eltern mit behindertem Kind eben geballt kommen und es oftmals um wesentlich mehr als “nur” das Sichtbare geht. Es geht eben nicht nur darum, dass die Nächte kürzer, die Mahlzeiten länger und die Kommunikationswege anders werden. Sondern auch um Fragen wie “Wer wird sich mal um mein Kind kümmern, wenn ich es nicht mehr kann? Wird mein Kind mir je sagen können, dass es mich lieb hat? Wann hat mein Kind den nächsten Anfall und schaffe ich es dann rechtzeitig den Krankenwagen zu rufen?” und ja, es gibt auch viele bei denen sich Fragen wie “Kann ich mein behindertes Kind genauso lieb haben wie die anderen? Bin ich gut genug als Mutter/Vater für ein Kind mit Behinderung? Habe ich Schuld an der Behinderung meines Kindes?” stellen.
Welche Rolle spielt die Idealvorstellung bei der Bindung zu deinem Kind?
Warum ist das alles aber überhaupt wichtig? Weil die Idealvorstellung und der Abschied von dieser elementare Einflüsse auf die Bindung zwischen Eltern und Kind haben. Genauso wie die Beziehungserfahrungen, die wir gesammelt haben beeinflusst auch unsere Idealvorstellung des Kindes und das Bild, das wir von uns als ideale Eltern haben, die Bindung. Die unbewussten Fahrpläne und Erwartungen, die wir hegen haben immer unweigerlich einen Einfluss auf das, was wir “tatsächlich bekommen”. Manchmal ist es gar nicht der Wunsch nach einem nicht behinderten Kind, der vor Herausforderungen stellt, sondern die Erwartung an einen selbst, die perfekte Mutter/Vater zu sein, die durch das behinderte Kind vermeintlich nicht mehr erfüllt werden kann. Die ganzen Bücher, die man zur Vorbereitungen gelesen hat, scheinen auf einmal nicht mehr das Richtige zu sein und was bleibt ist lediglich Unsicherheit.
Die Idealvorstellung loslassen
Ich finde es wird ganz häufig unterschätzt, was es bedeutet, seine Idealvorstellung loslassen zu müssen. Ich kann nur von Erfahrungen sprechen, die ich über die Jahre gesammelt habe und hier gab es leider vermehrt Jugend-/ Sozialämter, Therapeuten/-innen, Lehrer/-innen, die nicht erkannt haben, dass nicht immer die Kinder neue Therapien, Strukturen und Fördermaßnahmen, sondern manchmal “einfach nur” die Eltern jemanden zum Zuhören brauchen. Einen Ort, an dem sie ohne sich zu schämen oder Angst haben verurteilt zu werden, erzählen können wie es ihnen geht. Diesen Ort brauchen wir alle, aber weil behinderte Kinder eben in den meisten Teilen unserer Gesellschaft immer noch nicht zur Norm gehören, finden Eltern von behindertem Kind diesen oftmals nur schwer.
Und auch, wenn ich natürlich (!) sämtliche Therapien, usw. für einen unersetzbaren Aspekt halte, glaube ich weiterhin, dass Eltern der entscheidende Schlüssel in der Entwicklung ihrer Kinder sind. Und deshalb ist es wichtig, sie in genau dieser Rolle zu unterstützen und nicht nur mit Fördermöglichkeiten.
Idealvorstellung im Alltag
Und noch einmal zum Schluss, die Idealvorstellung hinterlässt sämtliche Spuren im Alltag. Wusstet ihr, dass z. B. insbesondere beim Essen Idealvorstellungen eine entscheidende Rolle spielen können & hier häufig die Ursache für Stress am Essenstisch liegt ?
Die aktuelle Podcastfolge findet ihr übrigens hier