Warum ich mich selbstständig gemacht habe
Selbstständigkeit – Möglichkeit der Inklusion. Ich habe viele Jahre bei diversen Trägern oder der Stadt Köln gearbeitet. Und auch aktuell bin ich weiterhin an einer Grundschule tätig. Das hat viele Vorteile (wie z.B. ein festes Einkommen, Versicherungen, Team-Sitzungen, usw.), aber ehrlich gesagt auch einige Schattenseiten. Und für mich persönlich war die Lösung dann irgendwann ganz einfach: Wenn man seine Arbeit so ausführen möchte, wie man selbst es für richtig hält, muss man sich selbstständig machen.
Die größten Auslöser
Ich habe leider die Erfahrung gemacht, dass insbesondere in der Arbeit mit Kindern mit Behinderung Konflikte auftreten, sobald der Profit im Vordergrund steht. Klar, verstehe ich, dass auch die Träger sich finanzieren müssen (neben Spenden), aber ich habe leider oft (nicht immer, die Lebenshilfe Köln e.V. z.B. war ein ganz toller Arbeitgeber) die Erfahrung gemacht, dass v.a. die Kinder und die Einbeziehung der Eltern darunter leiden. Am Ende des Tages habe ich so oft den Satz „Das zählt nicht zu deinen Aufgabenbereichen.“ gehört, dass ich es nicht einmal an einer Hand abzählen kann. Und dabei handelte es sich um inhaltliche Aspekte, die meiner Meinung nach immer zum Aufgabenbereich gehören: Die Unterstützung der Eltern und des Kindes in ihrer Alltagsgestaltung. Gewiss kann man nicht für alles zuständig sein, aber auf Fragen und Wünsche nicht eingehen zu können, weil man es offiziell nicht darf, hat mir persönlich auf Dauer Bauchschmerzen bereitet.
Systemfehler
Aber all solche Dinge können natürlich nicht in 90 Minuten inklusive An-/ und Abfahrt geleistet werden. Und das ist ein großes Problem. Es ist zu wenig Zeit für zu viel Bedarf da. Ich finde die Arbeit, die Träger und Frühförderstellen leisten trotzdem unabdingbar. Und ich glaube, die meisten schöpfen all ihre Möglichkeiten aus und wollen das Beste für die Familien. Aber manchmal versagt das System einfach. Wenn lediglich 90 Minuten finanziert werden, ist es auf Dauer problematisch, wenn die Mitarbeiter aber immer 120 Minuten bleiben.. weil wer übernimmt die Kosten? Zumal man in der halben Stunde bereits auf dem Weg zur nächsten Familie hätte sein können (sprich es geht eine, böse formuliert, Einnahmequelle verloren).
Auszug aus der Realität
Das bedeutet man gerät als Mitarbeiter/-in ständig in die Situation, nur an der Oberfläche kratzen zu können. Man macht von allem ein bisschen, aber nichts so ganz. Wie denn auch? Aber insbesondere wenn es beispielsweise um die Betreuung von Kindern mit Sonde geht, finde ich es mehr als problematisch. Die Eltern haben meistens so viele Unsicherheiten, Fragen und Sorgen, dass nicht einmal allein diese in 90 Minuten geklärt werden können. Achja! Und eigentlich ist man ja auch gar nicht in der Familie eingesetzt worden um Fragen zur Sonde zu klären, sondern um die Eltern in der Regulationsstörung ihres Kindes zu unterstützen. Das bedeutet die Sonde zählt offiziell gar nicht zum Aufgabenbereich der Mitarbeiter/-innen. Das eine hängt aber unweigerlich mit dem anderen zusammen.. solche Zusammenhänge werden dann aber leider oft außen vor gelassen.
Zu enge Beziehungen ?
Ein weiteres großes Thema bei Trägern, Frühförderstellen, usw. ist die Annahme als Pädagoge/-in keine „zu enge Beziehung“ zu den Familien und Kindern aufbauen zu dürfen. Das mag in vielerlei Hinsichten auch zutreffen. Aber (und das ist das wahrscheinlich größte “aber”, das ich ständig von mir gebe) jegliche Förderung, Beratung, Betreuung oder/und Begleitung von Familien mit behindertem Kind ist sinnlos, solange kein Vertrauen vorhanden ist. Und Vertrauen entsteht ausschließlich durch Bindung und Beziehung.
Siehe hierzu auch meinen Blogbeitrag zum Thema Bindung und berufliche Professionalität
Beziehung zulassen & Platz einräumen
Ich sage nicht, dass man mit jeder Familie über Persönliches reden muss, zu jedem Geburtstag eingeladen werden sollte, usw. Aber ich sage durchaus, dass man den Kindern und Familien einen gewissen Platz in seinem Leben einräumen muss. Zumindest für die Dauer der Zusammenarbeit. Jeder Mensch muss natürlich selbst entscheiden wie groß dieser Platz ist und da möchte ich gewiss auch niemandem etwas vorschreiben.
Aber man darf nicht vergessen, dass behinderte Kinder durchschnittlich 5x mehr ihre Bezugspersonen wechseln als nicht behinderte Kinder. Dass sie durchschnittlich mindestens 2 Mal in der Woche zur Therapie müssen und meistens noch abhängiger sind als nicht behinderte Kinder. Daher finde ich es logisch, dass sowohl das Kind als auch die Eltern Beständigkeit & Vertrauen in ihrem Alltag gut gebrauchen können. Und es geht nicht darum, einem Kind und dessen Eltern kurzzeitig in einem Kontext Unterstützung zu bieten, sondern darum sie als Familie in ihrem Alltag zu stärken. Und im Alltag ist Bindung die Grundlage für alles. Dementsprechend kann man nicht erwarten, dass Eltern die Bindung zu ihrem Kind stärken, wenn man selbst keinerlei Beziehung zulässt.
Der Schritt in die Selbstständigkeit
Sich selbstständig zu machen bedeutet also sich unabhängig zu machen von Vorgesetzten und deren Leitideen. Aber es bedeutet auch, die Verantwortung komplett alleine zu übernehmen. Es bedeutet Förderpläne zu erstellen, Maßnahmen auszuwerten, jedes Gespräch selbst zu führen, die gesamte Verantwortung zu tragen, seine Finanzen zu planen, alles vor-/ nachzubereiten, seine Altersvorsorge im Blick zu haben, Werbung zu machen, Entscheidungen alleine zu treffen, usw. Es bedeutet, dass ein durchschnittlicher Arbeitstag weit mehr als acht Stunden hat und die Arbeit auch „zuhause“ nicht endet.
Besonderheiten als #girlboss
In meinem Alter bedeutet es zudem auch, dass Freundschaften darunter leiden, dass andere Hobbies weniger werden und dass die Prioritäten sich stark ändern. Man hat keine Lust und Energie mehr sich die Nächte um die Ohren zu schlagen oder am Wochenende stundenlang durch die Stadt zu schlendern. Manche Menschen aus dem Umfeld verstehen das, andere nicht.
Oft ist es außerdem schwer als junge Frau wahr-/ernstgenommen zu werden. Man begegnet einigen Menschen, die einen nicht ernst nehmen oder/und ignorieren. Viele Menschen hinterfragen die Methoden, Ideen und Erfahrungen, die man hat. Einfach nur, weil sie nicht ihren eigenen entsprechen oder weil man eben verhältnismäßig jung ist. Und ich gebe auch offen zu, dass ich insbesondere zu Beginn dadurch oft gezweifelt und meine Ideen und Entscheidungen hinterfragt habe.
Ich möchte aber natürlich auch erwähnen, dass man auch unheimlich viele Menschen kennenlernt, die einen (bedingungslos) unterstützen, die Arbeit wertschätzen und denen Alter und Geschlecht vollkommen egal ist.
Hier kann ich euch übrigens, falls euch das Thema weiter interessiert, sehr das Buch “#Girlboss – Wie ich aus einem eBay-Shop das Fashionimperium Nasty Gal erschuf” empfehlen!
Würde ich die Entscheidung nochmal treffen?
Am Ende des Tages kann ich persönlich nur sagen, dass ich in meiner Arbeit etwas gefunden habe, dass ich lange gesucht habe. Und das ist jeden Zweifel wert. Ich habe in der Balance zwischen Selbstständigkeit und Tätigkeit in Ambulanten Diensten/Frühförderung mein persönliches Gleichgewicht gefunden. Denn natürlich muss man auch sagen, dass Träger und Frühförderstellen über andere Möglichkeiten verfügen als eine Einzelperson. Und auch, dass bei vielen Kindern & Familien die wöchentliche Unterstützung durch Ambulante Dienste “ausreicht”. Aber es gibt eben auch Familien, die mehr benötigen. Und solche Eltern sind es, die ich jetzt durch die Selbstständigkeit teilweise vier Mal monatlich sehe.
„Only those who will risk going too far can possibly find out how far they can go.” – T.S. Eliot