Schreien als herausforderndes Verhalten bei Kindern mit Behinderung
Schreien wird zu einer der häufigsten herausfordernden Verhaltensweisen gezählt, daher habe ich euch dazu einen kleinen Blogbeitrag verfasst. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen & freue mich über euer Feedback!
Als erstes muss betont werden, dass in dem folgenden Beitrag vor allem von persistierendem, lautem Schreien im Kindesalter die Rede ist. Es ist eine Erscheinungsform des Schreiens gemeint, die wir allgemein nicht als normal einschätzen würden. Als „normales“ Schreien stufen wir beispielsweise das nächtliche Schreien von Neugeborenen, bei Kindern kurze Jubelschreie oder Schreien vor sichtbarem Schmerz ein. Als nicht „normales“ Schreien wird jedoch meistens das anhaltende Schreien ohne objektiv erkennbare Gründe von älteren Kindern eingestuft. Weitere Beispiele sind, wenn Kinder im Unterricht ununterbrochen schreien oder Jugendliche Anfallsähnlich in Intervallen schreien. All diese Erscheinungsformen des Schreiens werden in der Regel als Verhaltensauffälligkeit, herausforderndes Verhalten, unangemessen oder Provokation bewertet.
Warum wir Schreien blöd finden
Weil jeder Mensch Schreien als unangenehm wahrnimmt. Wissenschaftlich erklärt, kommt die alarmierende Wirkung des menschlichen Schreis durch seine einzigartigen Schwankungen in der Lautstärke zustande. Je schneller ein Ton in der Lautstärke variiert, umso stärker reagiert die Amygdala, das Angstzentrum unseres Gehirns, darauf. Einfach erklärt verändert sich beim Schreien die Lautstärke also so schnell, dass das menschliche Gehör nicht hinterherkommt, und den rauen Ton als unangenehm empfindet.
Warum nehmen wir Schreien dann in manchen Kontexten als herausforderndes Verhalten wahr und in anderen nicht ?
Weil Schreien nicht isoliert betrachtet werden kann. Schreien findet immer in einem sozialen Kontext statt. Wir messen jedem Schrei eine Bedeutung zu. Sei es der Schrei eines Babys aus Hunger, ein Schrei vor Freude wenn etwas klappt, Schreien aus Schmerz oder Schreien vor Wut. Durch Schreien kann man außerordentlich viel ausdrücken. Solange wir nachvollziehen können warum jemand schreit, können wir es auch irgendwie noch aushalten. Zumindest für eine kurze Zeit. Aber wenn wir nicht verstehen, warum jemand plötzlich aufschreit oder brüllt und nicht mehr aufhört, dann bewerten wir das Schreien sofort als negativ und wollen uns diesem entziehen oder es am liebsten so schnell wie möglich unterbinden.
Was hinter dem Schreien steckt:
Am Anfang jeder menschlichen Kommunikation steht der Schrei.
Schreien ist unsere erste Ausdrucksmöglichkeit. Bei uns allen. Durch Schreien äußern wir unsere Bedürfnisse.
Später können durch Schreien aber auch (unterdrückte) Gefühle oder Macht nach außen getragen werden. Viele Menschen mit Behinderung schreien beispielsweise, weil sie sich ständig abhängig und machtlos fühlen. Man kann sich ja vorstellen, dass es ab einem gewissen Alter nicht mehr schön ist durch fremde Hilfe (und ständig wechselnde Betreuer) geduscht, gefüttert, angezogen, usw zu werden. Manchmal schreien sie aber auch, da ihnen andere Kommunikationsmittel nicht zur Verfügung stehen. Schreien kann also unheimlich viele verschiedene Auslöser haben, die nicht immer sofort sichtbar sind.
Schreien hat aber zugleich auch immer etwas mit Selbstbeherrschung/-kontrolle zutun. Menschen, die sich nicht gut regulieren können, können meistens auch kein instinktives Schreien unterdrücken.
Trotzdem ist das andauernde Schreien eines Kindes für sein Umfeld eine Belastung. Wir alle nehmen schreien als unangenehm war. Manchmal schaffen wir es uns daran zu gewöhnen bzw. es auszuhalten, manchmal aber auch nicht. Ich finde es auch in keinster Weise verurteilbar, wenn man zugibt, dass man das Schreien einer Person als anstrengend empfindet. Aber ich glaube, dass niemandem dauerhaft damit geholfen ist, wenn man einfach versucht das Schreien zu unterbinden oder zu ignorieren.
Was kann man beispielsweise bei andauerndem Schreien bei Kindern mit Behinderung tun?
- Realisieren, dass es in dem Moment für die Person das einzig sinnvolle Verhalten ist & sie sich nicht anders ausdrücken kann. Geistig behinderte Kinder erfassen meist das Prinzip des Provozierens nicht, daher schreien sie auch nicht aus Provokation.
- Versuchen den Schrei zuzuordnen (Reizüberflutung, Müdigkeit, Wut, Freude, Unterbrechen der Routine, unvorhersehbare Veränderungen, usw.)
- Suchen nach dem Auslöser für den Schrei (körper- oder emotionsbezogen)
- Das Schreien nicht die Beziehung zu der jeweiligen Person bestimmen lassen
- Das Schreien aushalten können (in dem Sinne, dass das Schreien als Ausdrucksmöglichkeit bzw. Bedürfnis anerkannt wird)
- Schreien ist häufig ein Ausdruck von Angst oder Abwehr & sollte in dem Fall genauso behandelt werden wie Weinen o.Ä. Es ist selten hilfreich auf Abwehr mit Abwehr zu reagieren.
- Konkrete Maßnahmen ergreifen (den Körper spüren lassen, Musiktherapie, Verhalten spiegeln, Abstand gewähren, Gemeinschaft herstellen, Atmosphäre ändern, Verständnis zeigen, Alternative Verhaltensweisen aufzeigen)
- Schreiprotokoll erstellen, um Auslöser zu finden
Ich glaube, dass es kein Rezept dafür gibt wie man mit Schreien umgehen sollte. Jedes Schreien hat einen anderen Auslöser, jede Beziehung zu der jeweiligen Person unterscheidet sich und am Ende hat jeder Mensch auch seine individuelle Grenze, was das Aushalten des Schreiens betrifft. Aber insbesondere im Kleinkindalter sollten Eltern Unterstützung erhalten, um beispielsweise Schütteltraumata zu verhindern.
2 thoughts on “Was du tun kannst, wenn dein Kind mit Behinderung schreit”
“Geistig behinderte Menschen erfassen das Prinzip des Provozierens nicht, daher schreien sie auch nicht aus Provokation.”
Ganz abgesehen davon, dass die Formulierung nicht wertschätzend ist (wir sagen Mensch mit geistiger Behinderung, nicht geistig behinderter Mensch – letzteres reduziert diesen auf die Behinderung), ist der Inhalt dieses Satzes schlicht und ergreifend falsch. Geistige Behinderungen sind so vielfältig und einzigartig wie wir Menschen selbst, als Beispiel sei hier Trisomie 21 angeführt – es reicht von komplettem Sprachunvermögen und -unverständnis bis hin zu Menschen, die einen guten Schulabschluss erworben haben. Daher ist es weder fair noch richtig, alle über einen Kamm scheren zu wollen. Es gibt sehr wohl Menschen mit geistiger Behinderung, die das Prinzip des Provozieren verstehen und auch bewusst anwenden – es ist schade, dass Sie diesen Menschen nicht zutrauen, ja sogar absprechen, über genug Verständnis zu verfügen um Provokation zu begreifen. Vielleicht wollen Sie Ihre Sichtweise noch einmal überdenken und den Artikel entsprechend anpassen.
Ich arbeite schon seit vielen Jahren in Wohnheimen für Menschen mit Behinderung, daher kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass selbst Menschen mit stärkeren Einschränkungen durchaus in der Lage sind, bewusst zu provozieren.
Um Ihnen ein konkretes Beispiel zu nennen: eine Bewohnerin weiß genau, wie sie ihre Mitbewohner ärgern kann, was sie sagen muss, um diese auf die Palme zu bringen, und tut das auch, sobald kein Mitarbeiter in Hörreichweite ist. Das Wort provocare entstammt dem Lateinischen und bedeutet hervorrufen – ja, auch Menschen mit Behinderung wissen, wie sie ein bestimmtes Verhalten in anderen hervorrufen können.
Liebe Hanna, vielen Dank für deinen Kommentar. Ich verwende des Öfteren auch die Beschreibung “behinderter Mensch”, auch wenn es aus fachlicher Sicht oft umgangen wird, gibt es meiner Erfahrung nach (und ja auch im öffentlichen Diskurs) zahlreiche Menschen mit Behinderung, die es bevorzugen “behindert” genannt zu werden. Ich verwende daher beide Ausdrucksweisen. Und natürlich stimmt es, dass es erwachsene Personen gibt, die das Prinzip des Provozierens sicherlich verstehen. Kinder mit geistiger Behinderung/Entwicklungsverzögerung allerdings nicht. Und in dem Beitrag geht es ja nur um Kinder, nicht erwachsene Personen 😉 Das Prinzip des Provozierens setzt eine Handlungsplanung, kognitive Fähigkeiten wie zB der theory of mind uvm. voraus. Dies entwickeln Kindern durchschnittlich erst im Alter von vier bis fünf Jahren und man weiß nachweislich, dass die meisten Kinder mit (geistiger) Behinderung diese sehr spät oder gar nicht entwickeln. Das bedeutet, dass Kinder mit Behinderung selten provozieren. Auch wenn das Wort aus dem Lateinischen stammt, impliziert es im Deutschen im Kontext einer Interaktion nicht nur etwas hervorzurufen, sondern vielmehr
“sich so äußern, verhalten, dass sich ein anderer angegriffen fühlt und entsprechend reagiert; herausfordern”. Und ja, behinderte Kinder können genauso Abfolgen und Verhaltensweisen provozieren, sie tun dies aber in einem gewissen Entwicklungsalter mit Sicherheit (und das ist wissenschaftlich bewiesen) nicht, weil sie bewusst beim Gegenüber gewisse Emotionen erzeugen wollen, sondern weil sie genauso wie Kinder, die ohne Behinderung leben verstehen, dass gewisse Handlungen spezifische Verhaltensweisen als Konsequenz haben. Und dabei wird oft nicht unterschieden zwischen vermeintlich aus unserer Sicht positiv oder negativ, sondern Reaktion ist Reaktion. Daher wird der Text so stehen bleiben, aber danke für den Kommentar 🙂 Liebe Grüße Elisa